Wie wir pflegen und pflegen wollen
Karin Schuster im Gespräch mit Manfred Kinzer, im September 2024
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Karin, Anfang 2019 hast du das Projekt Pflegestützpunkt bei Radio Helsinki gestartet. Da hast du selber noch als diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin (DGKP) gearbeitet. Anfang 2020 kam Corona, aber du und der Pflegestützpunkt habt durchgehalten. Vor kurzem bist du bereits in das fünfte Projektjahr gestartet. Gratuliere! Was war die Motivation, der Ausgangspunkt für dich, das Projekt zu starten?
Danke 🙂 Ich war seit Anfang der 90iger im Pflegeberuf tätig, vorwiegend im OP. Beim Radio bin ich seit 13 Jahren. Als ich 2016 den Medienlehrgang an der Uni Graz abgeschlossen habe, hat sich für mich immer stärker die Frage herauskristallisiert: wer spricht über Pflege(-arbeit)? Kaum sind es Pflegekräfte, die an der Öffentlichkeit zu Wort kommen. Die Bedarfe für Pflegende und zu Pflegende langfristig sicht- und hörbar zu machen, war die Grundmotivation.
Wie wichtig ist der Aspekt der Pflege als Lohnarbeit beim Pflegestützpunkt (PSP) und umgekehrt wie wichtig unbezahlte Pflegetätigkeiten?
Professionelle Pflege hat im Projekt einen großen Stellenwert, schließlich ist es die größte Berufsgruppe in den Gesundheitsberufen. Der PSP ist ein Sprachrohr für Pflegekräfte, um ihre Expertise und Erfahrung ins Scheinwerferlicht zu stellen. Sie geben der Bevölkerung pflegerelevante und gesundheitsfördernde Informationen weiter, artikulieren aber auch Forderungen was unser Gesundheitssystem zur Weiterentwicklung braucht. Und da kommt der größte Pflegedienst Österreichs ins Spiel: pflegende Angehörige. Knapp 1 Million Menschen aller Altersgruppen betreuen und pflegen ihre Angehörigen zu Hause.
Prinzipiell kommen wir bei der Versorgung in eine Zwickmühle. Der demografische Wandel beschert uns weniger Junge die in Sorgeberufe einsteigen. Gleichzeitig erhöht sich der Versorgungsbedarf der immer älter werdenden Gesellschaft. Es wurde von Entscheidungsträgern der letzten Jahrzehnte wenig Augenmerk auf Prävention gelegt, dass wir auch gesund altern. Durch viele chronisch Kranke bedarf es nun erhöhten Pflegeaufwand. Das Zusammenspiel von Professionist:innen und Ehrenamt bekommt in naher Zukunft sicher einen größeren Stellenwert.
Im Pflegestützpunkt machst du Radiosendungen zu Pflegethemen. Die Sendung läuft nicht nur auf Radio Helsinki, sondern mittlerweile auch regelmäßig auf Freien Radios in Wien, Salzburg, Linz, im Kremstal, in Vorarlberg und im Ennstal. Was passiert(e) abgesehen von den Sendungen noch beim Pflegestützpunkt?
Der Pflegestützpunkt schafft Räume für einen in unserer Gesellschaft vernachlässigten Diskurs über Pflege, Betreuung und Carearbeit.
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Dazu organisieren wir zahlreiche Veranstaltungen um diese Themen in die Bevölkerung zu bringen, etwa die Pflegestraße im Shoppingcenter mit zahlreichen Infoständen und Kurzvorträgen von Expert:innen. Wir haben mehrmals den Pflege-Tanz-Flashmob im öffentlichen Raum aufgeführt. Das Einüben der Choreografie hat viel Spaß gemacht, ist gleichzeitig eine gesundheitsfördernde Maßnahme und schafft ein Gemeinschaftsgefühl. Podiumsgespräche und Infostände an vielen Orten, auch unter freiem Himmel im Rahmen vom Stadtviertelfest Lendwirbel, tragen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung bei.
Speziell für Pflegekräfte bieten wir den Pflegestammtisch an, in Präsenz und online, um Herausforderungen aus dem Berufsalltag reflektieren zu können und mögliche Handlungsspielräume sichtbar zu machen. Zum internationalen Tag der Pflege am 12. Mai veranstalten wir die Nochtschicht, eine 12 Stunden-Livesendung die ich mit Unterstützung von Kolleg:innen von 19 Uhr bis 7 Uhr live durchmoderiere. Pflegearbeit wird gefeiert, mit vielen spannenden Gästen (heuer knapp 40) und lässiger Musik. Obendrein kommt es Funkhaus-Foyer dadurch zu schönem Austausch und Vernetzung.
Der Mini-Workshop „Was würde ich wollen?“ wird an mehren Orten abgehalten und lädt die Teilnehmenden ein, sich aktiv und kreativ mit der Frage zu beschäftigen: „Wie möchte ich im Alter leben und wenn ich Unterstützung und Pflege brauche, wie soll diese ausschauen?“. Die dabei entstanden Collagen finden Platz in einer Ausstellung, um die Thematik wieder zu den Menschen zu bringen und anzuregen. Der PSP ist außerdem an Pflegeausbildungsstätten und auf Kongressen präsent. Im 5. Projektjahr wollen wir die bestehenden Angebote noch breiter zu den Menschen bringen.
Wie geht es der Pflege 2024? Besser oder schlechter als vor fünf Jahren?
In dieser Gesetzgebungsperiode wurde auf Bundesebene mit den Pflegereformen wirklich einiges auf den Weg gebracht. Für Pflegekräfte etwa die zusätzliche Entlastungswoche, der Gehaltsbonus, die Erst- und Weiterverordnung von Medizinprodukten für DGKP oder die Gleichstellung in der Entlohnung für DGKP bei Pflegegeld-Begutachtungen. Auch für pflegende Angehörige kam es zu Unterstützungen. Wir kommen aber in der Versorgung zu Hause immer mehr in die Situation, wer es sich leisten kann, bekommt Pflege. Selbstständige Pflegekräfte haben noch keine Möglichkeit ihre Leistungen über Versicherungen abzurechnen bzw. dass die Kosten wie bei Physiotherapeut:innen rückerstattet werden. Und Pflegekräfte verlassen ihre Dienstgeber, weil es oft gar nicht rund läuft. Was Pflegekräfte in ihrer Arbeit hemmt wurde schon oft formuliert: Hierarchien aus dem letzten Jahrhundert, gesamtgesellschaftliche Geringschätzung der Pflege- und Sorgearbeit, aber auch mangelndes Selbstbewusstsein der Pflegekräfte selbst. Die Liste lässt sich noch lange fortführen und es tun sich große Versorgungslücken auf. Aber schauen wir auch auf die Potentiale! Das versucht auch der Pflegestützpunkt: wo läuft was gut, wie können diese Erkenntnisse transferiert werden. Hinschauen auf das Gelungene und empowern, um Lust zu entwickeln, an einer sorgenden Gesellschaft mitzubauen. Deshalb auch der Untertitel: wie wir pflegen und pflegen wollen.
Welche drei politischen Maßnahmen wären deiner Meinung nach am wichtigsten für eine gute Pflege für alle Beteiligten?
1.) Die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte bzw. im Gesundheitsbereich Tätige rasch verbessern, damit nicht noch mehr den Beruf verlassen und mehr Interesse an diesen Berufen entsteht. Dazu muss es zu weitreichenden Veränderungen kommen, wie etwa profitorientierte Pflegewohnheime nicht weiter mit öffentlichen Geldern subventionieren, aber auch erleichterter Zugang zur Schwerarbeiterregelung, eine österreichweite Vereinheitlichung des Personalschlüssels sowie mehr Unterstützung der Führungskräfte, auf ihnen lasten in dieser Systemlogik hohe Erwartungen.
2.) Pflegende Angehörige brauchen dringend Unterstützung die tatsächlich ankommt. Dazu müssen die bestehenden Angebote viel besser in der Bevölkerung ankommen. Warum kennt die Familie Lutz jeder und kaum jemand die nächste Anlaufstelle bei Pflege- und Betreuungsbedarf?
3.) Die 24 Stunden-Betreuung trägt eine kolonialistische Haltung in sich. Es ist eine gewachsene Notlösung von der wir aber abhängig gemacht worden sind, weil andere Versorgungsangebote nicht auf Schiene gebracht wurden.
Als Überschrift würde ich sagen: es braucht Bedingungen zum kümmern, versorgen und pflegen, in denen Caregeber:innen nicht selbst krank werden. Gewerkschaften und Berufsverband ÖGKV sind gute Anlaufstellen zum aktiv werden und bestärkenden Druck von unten aufzubauen, denn ohne kommen wir da nicht raus. Abschließend lade ich ein zu überlegen: wie sieht meine persönliche Vorstellung einer gelungenen Pflegewelt aus?
Eine kürzere Version dieses Interviews ist am Programmfalter Oktober 2024 bis Jänner 2025 abgedruckt.